Mein Interview zum Thema Reparationen für die polnische Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“

Interview mit Dietmar Nietan, SPD-Bundestagsabgeordneter, Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-polnische zwischengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit

Bartosz T. Wielinski: Die PiS-Regierung wird von Deutschland 6,2 Billionen Zloty an Reparationszahlungen für den Zweiten Weltkrieg fordern. Beim heutigen Wechselkurs sind das 1,3 Billionen Euro. Werden Sie bezahlen?

Dietmar Nietan, Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-polnische zwischengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit: Die Position der Bundesregierung ist unverändert, die Reparationsfrage ist abgeschlossen. Verschiedene polnische Regierungen haben den Verzicht auf Reparationen mehrfach bestätigt. Dies ist eine wesentliche Grundlage für die heutige Ordnung Europas. Und ich bin überzeugt, dass die polnischen Politiker, die die Studie über die Kriegsverluste Polens in Auftrag gegeben haben, sich dessen von Anfang an bewusst waren.
Deutschland steht selbstverständlich zu seiner Verantwortung für die während des Zweiten Weltkriegs begangenen Verbrechen. Die Erinnerung und die Aufarbeitung werden für uns niemals abgeschlossen sein. Ich denke, wir könnten auch noch mehr tun, um zum Beispiel unsere Kinder für die polnische Geschichte zu sensibilisieren. Aus meiner Sicht könnte dafür auch über gezielte Unterstützung der Zivilgesellschaft in Polen, zum Beispiel einen Fonds, eingerichtet werden. Wir könnten darüber sprechen.

BW: Jaroslaw Kaczynski, der Vorsitzende der Partei Recht und Gerechtigkeit, sagt, dass kleine Gesten wie ein Fonds ihn nicht interessieren. Sie müssen den gesamten Betrag bezahlen…

DN: Die Reparationsfrage ist rechtlich abgeschlossen. Deshalb wird Deutschland wird nicht zahlen und Jaroslaw Kaczynski weiß das. Offenbar glaubt er, dass dieses Thema seiner Partei in dem Wahlkampf helfen wird, dessen Hauptmotiv die antideutsche Rhetorik sein wird. Die Veröffentlichung des Berichts über die Verluste Polens wurde mehrmals verschoben. Es ist kein Zufall, dass er gerade jetzt veröffentlicht wird.

BW: Über das Ausmaß der von den Deutschen in Polen angerichteten Zerstörungen brauchen wir wohl nicht zu diskutieren. Warum wollen die Deutschen am Ende nicht dafür bezahlen?

DN: Reparationen sind eine rechtliche Frage. Polnische Regierungen, sowohl während des Kommunismus als auch nach 1989, gaben Erklärungen ab, in denen sie bestätigten, dass sie keine Reparationen fordern würden.
Ich glaube, dass wir uns als Deutsche immer wieder die Frage stellen müssen, ob wir genug getan haben, um unsere Vergangenheit aufzuarbeiten, den Nationalsozialismus, unsere Verantwortung für den Ausbruch des Krieges und die Verbrechen während des Krieges. Tun wir genug, um sicherzustellen, dass unsere Kinder in den Schulen über das grausame Unrecht unterrichtet werden, das die Deutschen den Polen angetan haben? Stecken wir genug Geld in diese Sache?
Ich habe volles Verständnis für die polnischen Forderungen nach einem Gedenken an die polnischen Opfer des Krieges und teile sie sogar. Wir könnten das partnerschaftlich besprechen und überlegen, was wir gesellschaftspolitisch und finanziell noch tun können, um zu zeigen, dass wir uns unserer moralischen und politischen Verantwortung für die NS Verbrechen nicht entziehen Einen solchen konstruktiven Weg hat die jetzige polnische Regierung leider nicht gesucht.

BW: Polen ist nicht das einzige Land, das Reparationen von den Deutschen fordert. Griechenland hat 2019 eine ähnliche Forderung gestellt.

DN: Die Haltung der Bundesregierung, dass die Reparationsfrage abgeschlossen ist, gilt auch in Bezug auf Griechenland. Darüber sind wir mit unseren griechischen Freunden im Gespräch. Ich
persönlich bin der Meinung, dass Deutschland mehr tun sollte, dass die Verbrechen nicht vergessen werden sollten. Aber selbst in Griechenland werden diese Themen nicht für den Wahlkampf
genutzt.

BW: Und in Polen ist die Partei Recht und Gerechtigkeit auf dem Vormarsch. Die antideutsche Kampagne läuft schon seit vielen Monaten. Nach Ansicht der Partei und der ihr untergeordneten
Medien ist Deutschland für alles Böse in der Welt verantwortlich, und die Oppositionspolitiker mit Donald Tusk an der Spitze sind deutsche Prügelknaben. Wie nehmen die Deutschen dies wahr?

DN: Derartige Aussagen sind schwer nachvollziehbar. Was Donald Tusk angeht: Es ist wirklich lächerlich ihn als deutschen Agenten zu verunglimpfen. Ich erinnere mich an viele seiner Reden, in
denen er als polnischer Ministerpräsident Deutschland kritisiert hat, zum Beispiel in Bezug auf die Beziehungen zu Russland. Tusk verfolgte jedoch keine antideutsche Politik, sondern führte einen konstruktiven Dialog mit dem Ziel, dass Polen und Deutschland, zwei wichtige Länder in der NATO und der Europäischen Union, so gut wie möglich zusammenarbeiten. Deutschland hat sicher Fehler gemachtund kann kritisiert werden. Wenn aber der PiS-Vorsitzende Kaczynski behauptet, dass das NATO-Mitglied Deutschland nur formell ein Verbündeter Polens ist
und wenn der Europaabgeordnete Zdzislaw Krasnodebski behauptet, inmitten des verbrecherischen Angriffs Russlands auf die Ukraine, dass nicht Russland, sondern der Westen die größere
Bedrohung darstellt, dann ist das unverantwortlich.

Ich glaube, dass solche Äußerungen nicht hilfreich sind, auch für die internationale Wahrnehmung Polens. Polen engagiert sich beispielsweise sehr für die Unterstützung der Ukraine, auch im EU-Kreis. Wenn die polnische Regierung die EU als Quelle allen Übels behandelt, wenn von der Bedrohung durch den Westen gesprochen wird, dann passt das für mich nicht zusammen. Die Ukraine braucht die langfristige Unterstützung der NATO und der Europäischen Union. Das wird ein Marathon. Dafür brauchen wir eine starke und geschlossene EU, auch im Interesse Kiews. Ich teile die Einschätzung, dass der Bau der Nord Stream 2-Gaspipeline ein großer Fehler war. Was Putin betrifft, so waren die Deutschen sehr naiv. Hier haben wir eine Kurswende vollzogen und arbeiten an der Umsetzung. Das ändert aber nichts daran, dass wir ein wichtiger Akteur in der EU und auch in der NATO sind.Deutschland an den Pranger zu stellen und die Spaltung zwischen Polen und Deutschland in dieser Situation immer weiter zu vertiefen, ist aus meiner Sicht nicht zielführend.

BW: Sie sprechen von der Unterstützung Kiews, aber es sind die Deutschen, die ein Problem damit haben, nicht die Polen. Erst haben Sie sich geweigert zu helfen, jetzt wollen Sie den Ukrainern
keine modernen Panzer liefern….

DN: Ich verstehe diese Kritik. Anfangs hatte man den Eindruck, dass wir zu langsam und unsicher auf den Ausbruch des Krieges reagierten. Aber sehen wir uns die Fakten an. Deutschland liefert
jetzt tatsächlich viele Waffen an die Ukraine, wir haben Gepard-Flugabwehrkanonen, Panzerhaubitzen 2000, Mars-Raketenwerfer übergeben, wir werden das Flugabwehrsystem Iris-T liefern. Dabei handelt es sich nicht um Kleinigkeiten, sondern um Ausrüstung, die die ukrainische Armee erheblich stärkt.
Hören Sie auf Bundeskanzler Scholz, er nennt Putin ausdrücklich einen Kriegsverbrecher und kündigt an, dass Deutschland der Ukraine so lange helfen wird, wie es nötig ist. Man mag der Meinung sein, dass es spät passiert ist, aber wir haben endlich damit begonnen, Milliarden von Euro in unsere Armee zu investieren. Deutschland tut alles, um sich so schnell wie möglich aus der Abhängigkeit von russischem Gas zu befreien. Nie zuvor haben Polen und Deutschland Russland so deutlich als die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit in Europa bezeichnet.
Natürlich kann man kritisieren, dass Deutschland erst aufgewacht ist, als russische Bomben auf die Ukraine fielen und die Menschen dort zu sterben begannen. Aber bitte nehmen Sie auch wahr, dass wir aus unseren Fehlern lernen und entsprechend handeln. Der sozialdemokratische Bundeskanzler verfolgt nun eine Politik, die es unter Angela Merkel nicht gab. In einer Situation, in der wir in Europa einen solchen Wandel erlebt haben, ist es einfach unverantwortlich, einen Konflikt mit Deutschland zu provozieren.

BW: Wie nachhaltig sind diese Veränderungen? Ein harter Winter steht bevor, und es gibt bereits Forderungen, die Beziehungen zu Russland wiederherzustellen, um die Versorgung mit billigem Gas sicherzustellen…

DN: Das wird nicht passieren. Im Zusammenhang mit den Nord-Stream-Gaspipelines und den Beziehungen zu Putin habe ich Verständnis für jeden Polen, der sich fragt, ob man Deutschland wirklich trauen kann. Deutschland muss sich dieses Vertrauen hart erarbeiten. Es braucht Zeit. Aber es liegt im Interesse aller Regierungen in Mittel- und Osteuropa, die uns vor einer falschen Russlandpolitik gewarnt haben, Deutschland jetzt dabei zu unterstützen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Auch in den baltischen Länder, der Tschechischen Republik und der Slowakei gab es Enttäuschung. Die Regierungen dieser Länder betreiben aber keine antideutsche Politik, sie halten uns jetzt an unserem Wort fest.

BW: Die Regierung von Recht und Gerechtigkeit glaubt auch, dass Deutschland dahinter steckt, dass die Europäische Kommission Polen 36 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds nicht ausgezahlt hat.

DN: Dem möchte ich entschieden widersprechen. Es geht hier um einzig und allein um die Entscheidung eines unabhängigen EU-Organs. Wir vertrauen den demokratischen Institutionen der Europäischen Union, die auf der Grundlage der Verträge handeln, die Polen ratifiziert hat.

BW: Wir hören von Rechtspolitikern das Gegenteil, nämlich dass Deutschland Europa hegemonisiert und einen Superstaat Europa schafft. Kaczynski nannte es das Vierte Reich.

DN: Die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu stärken, damit wir gemeinsam die Herausforderungen erfolgreich angehen können, vor denen Deutschland, Polen und die anderen Mitgliedsstaaten stehen, das sollte aus meiner Sicht im Interesse unserer beider Länder sein. Solche Äußerungen sind eine Beleidigung der Vernunft. und werden auch nicht von anderen EU-Staaten geteilt.

BW: Der stellvertretende Infrastrukturminister Marek Gróbarczyk hat kürzlich angedeutet, dass es die Deutschen waren, die die Oder vergiftet haben könnten, um „Investitionsprozesse in Westpommern zu behindern“.

DN: Wenn ein Mitglied der polnischen Regierung dies behauptet, wird er sicherlich in der Lage sein, Beweise vorzulegen. Und wenn nicht, sollte er sich für die Verbreitung von Fake-News entschuldigen.
Die Oder ist unsere gemeinsame lebensspendende Arterie. Es liegt daher in unserem gemeinsamen Interesse, den Fluß wiederzubeleben und die Ursachen für diese Katastrophe zu finden, um daraus für die Zukunft Lehren ziehen zu können. Darum muss es gehen: gemeinsame Aufarbeitung und gemeinsame Lösungsfindung für gemeinsame Herausforderungen. Es ist gut, dass genau hieran gearbeitet wird. Mit Schuldzuweisungen ist niemandem gedient.

BW: Die Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen sieht nicht gut aus…

DN: Ich bin in der Tat sehr besorgt, dass Äußerungen wie die Europäische Union sei ein deutsches trojanisches Pferd, Deutschland gehe an Putins Leine und ähnliches langsam das Vertrauen und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit bröckeln lassen könnten. Aber wie sollen wir unsere Freiheit gegen Russland verteidigen, wenn wir uns nicht gegenseitig vertrauen? Es gibt eine Person, die sich freut, wenn Polen und Deutschland heftige Streitigkeiten haben. Es ist Wladimir Putin.

Das Gespräch führte Bartosz T. Wielinski

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