Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Deutschland und Europa wurden vom Schreckensregime der Nationalsozialisten befreit. Wir haben allen Grund, in Demut und Dankbarkeit an diese Befreiung zurückzudenken: Die Alliierten haben dafür einen hohen Blutzoll gezahlt. Die Völker der damaligen Sowjetunion , Amerikaner, Franzosen, Briten und auch Polen, die in alliierten Armeen mitkämpften, gaben ihr Leben für die Befreiung der Menschheit vom deutschen Faschismus.
Rund 60 Millionen Menschen waren am Kriegsende tot. 6 Millionen Jüdinnen und Juden durch das Menschheitsverbrechen der Shoah ausgelöscht. In den besetzten Ländern und Gebieten hatten die deutschen Besatzer schrecklich gewütet. Gerade in Mittel- und Osteuropa, seit 1939 in Polen und ab 1941 in den Ländern der Sowjetunion, führten die Nationalsozialisten einen Vernichtungskrieg, der von Willkür und Grausamkeit gegen die Zivilbevölkerung geprägt war.
Das Geschenk der Versöhnung
Die Verbrechen der nationalsozialistischen Besatzer und damit verbundenen Traumata haben sich über Generationen hindurch tief in das kollektive Gedächtnis unserer europäischen Nachbarländer eingebrannt. Umso erstaunlicher und wunderbarer ist es, dass uns heute mit Frankreich, Polen und vielen anderen Ländern partnerschaftliche politische Beziehungen und enge zivilgesellschaftliche Netzwerke verbinden. Dass wir nach dem Holocaust auch mit Israel gute Beziehungen pflegen, ist ebenfalls von unschätzbarem Wert.
Warum wir dankbar sein sollten
Dass uns Deutschen die Völker, denen wir unermessliches Leid zugefügt haben, dennoch die Hand zum Frieden reichten, dass uns am Ende der Marshall Plan und nicht der Morgenthau-Plan zuteil wurde, dass wir Gründungmitglied der Europäischen Gemeinschaft sein durften. Ja all dass erfüllt mich mit Dankbarkeit und sollte jedem Deutschen, der jetzt nicht bereit ist, den von der Corona Pandemie besonders hart gebeutelten EU-Mitgliedsstaaten auch mit „deutschem Geld“ zu helfen, die Schamröte ins Gesicht treiben.
Die Erinnerung wach halten
75 Jahre, also ein ganzes Menschenleben nach Kriegsende müssen wir die Art und Weise, wie wir die Erinnerung aufrechterhalten und das Gedenken gestalten wollen, neu betrachten. Vieles, aber längst nicht alles, ist erforscht und aufgearbeitet. Es bleiben Leerstellen. Ich will die deutsche Besatzung Polens nennen, über die in Deutschland im Allgemeinen erschreckend wenig gewusst wird und die doch die Geschichte nahezu jeder Familie in unserem Nachbarland geprägt hat.
Wir werden herausgefordert durch Stimmen, die auch noch im Jahr 2020 das Ende des Krieges und somit die Befreiung vom Nationalsozialismus als „totale Niederlage“ empfinden und das NS Unrecht relativieren oder gar einen Schlussstrich ziehen wollen.
Natürlich waren die Tage im Mai 1945 für die meisten Deutschen damals keine Tage unbeschwerten Freudentaumels. Zu schwer wogen die Zerstörungen, die Not und das menschliche Leid. Doch aus heutiger Sicht verdient der 8. Mai, ein würdig begangener Feier- und Gedenktag zu sein. Denn er war am Ende ein Tag der Befreiung – auch des Deutschen Volkes, dass dieser Befreiung bedurfte, weil es dazu selbst nicht fähig war.
Gemeinsames statt „nationales“ Erinnern
Dass wir heute anfangen, die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und des NS-Unrechts nicht nur aus der deutschen, sondern auch aus der Perspektive der verschiedenen Opfergruppen, der betroffenen Länder und des ganzen kriegsgeschundenen Kontinents multiperspektivisch und dialogisch zu betrachten, ist eine riesengroße Chance – nicht nur für die Imprägnierung gegen Nationalismus und Faschismus. Denn diese Vielfalt der Erinnerungen erlaubt zwar kein einheitliches, aber ein ehrlicheres Bild unserer gemeinsamen europäischen Geschichte.
Es geht heute nicht um Schuld, sondern Verantwortung
1999 war es mir vergönnt, in Yad Vashem mit eine Gruppe von jungen Abgeordneten von SPD und Grünen den großen israelischen Historiker und Holocaust-Forscher Yehuda Bauer zu treffen. „Lassen Sie sich nicht einreden, dass Sie als nach dem Krieg Geborene irgendeine Schuld an der Shoa tragen,“ sagte er uns damals. Und er fuhr fort: „Aber als Deutsche tragen Sie und ihre Nachkommen ein Leben lang eine besondere Verantwortung, alles in Ihrer Macht stehende zu tun, dass dieses präzedenzlose Menschheitsverbrechen niemals vergessen wird, damit es sich nie mehr wiederholen kann.“
Das ist unsere gemeinsame Verantwortung:
Nie mehr Krieg! Nie mehr Faschismus! Nie wieder!