Vor 25 Jahren: Die erste Montagsdemonstration in Leipzig

Dietmar Nietan MdB

Meine ganz persönlichen Erinnerungen an den 4. September 1989 beginnen eigentlich erst vier Wochen später: Am Montag, den 2. Oktober 1989 stoppt der D-Zug von Köln nach Leipzig nachmittags im Bahnhof von Eisenach, seinem ersten Halt auf dem Staatsgebiet des “ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates”. Da meine halbe Familie in der DDR lebt, sind die Zugfahrten “nach drüben” inklusive der strengen Grenzkontrollen für mich zur Routine geworden. Doch diesmal wird es anders sein. Diesen Halt in Eisenach werde ich nicht mehr vergessen.

Als der Zug in den Eisenacher Bahnhof einfährt, sitzt meine damalige Lebensgefährtin und heutige Ehefrau alleine mit mir im 6er Abteil der 2. Klasse. Dagmar ist sehr gespannt auf die DDR. Es ist ihre erste Reise dort hin. Wir schieben das Fenster auf, damit frische Luft in das Abteil gelangen kann. “Hier brennt es irgendwo”, ruft meine spätere Frau. Ich erkläre ihr, dass in der DDR mit Braunkohle geheizt werde und es im Herbst und Winter hier überall nach Kohle riechen würde.

In diesem Moment wird die schwergängige Schiebetür des Abteils mit einem großen Rums aufgerissen. Ein junger Mann in unserem Alter stürmt hinein, gefolgt von drei älteren Damen. “Es wird Zeit, dass die den Honecker in die Wüste schicken und den Schleimer Krenz gleich mit”, bricht es aus ihm heraus. “Sie beide kommen ja aus dem Westen”, wendet er sich nun an uns. “Gucken Sie sich das hier noch mal alles gut an. Die DDR ist bankrott. Die gibt´s nicht mehr lange!”

Mir stockt der Atem. So etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt und bisher auch nicht für möglich gehalten. War der Mann ein Provokateur der Stasi? “Na, se hamm vollkommen recht! Ich kann die Brüder vom Politbüro alle nicht mehr sehen! Die belügen und betrügen das Volk nach Strich und Faden”, legt eine der drei älteren Damen nach. Kein betretenes Schweigen, wie ich es vermutet hätte, sondern eine muntere Diskussion über den ökonomischen und moralischen Bankrott einer Diktatur entwickelt sich an diesem denkwürdigen Tag in diesem Abteil des D-Zugs nach Leipzig. Als ich aus dem Zug aussteige, ist für mich klar, dass sich dieses Regime nicht mehr lange halten wird. Der Mut der Bevölkerung war endlich größer als deren Angst!

Vier Wochen vor meiner damaligen Einreise fand am Montag den, 4. September 1989, turnusgemäß in der Leipziger Nikolaikirche wieder das erste Friedensgebet nach den Sommerferien statt. An diesem Tag manifestierte sich einer der entscheidenden Scheitelpunkte, welche den Aufbruch in eine für mich bis heute wunderbare friedliche Revolution wohl unumkehrbar machten.

Pfarrer Christian Führer war schon Jahrzehnte in der Nikolaikirche tätig. Mit ihm gab es die Friedensgebete schon viele Jahre. Doch an diesem ersten Montag im September des Jahres 1989 sollte das Friedensgebet zum Startpunkt dessen werden, was als die berühmten Montagsdemonstrationen zu einem der glorreichen Kapitel deutscher Geschichte werden sollte.

Im Sommer 1989 begann die Massenflucht über die von Ungarn geöffnete Grenze nach Österreich. Tausende Menschen flüchteten in die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau. Michail Gorbatschow entzog den alten Autokraten von Bukarest bis Ost-Berlin den Schutzschirm. In internen Papieren wurde dem Politbüro der SED klar gemacht, dass der Bankrott der DDR kurz bevor stand.

Und so machen sich am 4. September 1989 fast 1.000 mutige Menschen nach dem Friedensgebet zur ersten “Montagsdemo” auf. Es lief gerade die Leipziger Messe. Viele ausländische Gäste waren in der Stadt und natürlich auch viele westliche Medien. So mussten sich Stasi und Volkspolizei zurückhalten. Der humanistische Anschein nach außen war den Herrschenden damals durchaus wichtig. Diejenigen, die am 4. September 1989 mutig in der ersten Reihe der Demonstranten standen, wurden erst bei der Montagsdemo eine Woche später gezielt herausgegriffen und interniert. An dem Tag war die Leipziger Messe vorbei und auch nicht mehr so viele “Westmedien” dabei.

Doch seit diesem 4. September wächst die Zahl der Teilnehmer am Leipziger Friedensgebet und der anschließenden Demonstration von Montag zu Montag. In der Rückschau mutet es fast wie ein Wunder an, dass die Demonstrationen trotz aller Provokationen der Staatsorgane der DDR immer absolut friedlich und in unglaublicher Weise diszipliniert abliefen. Es war sicherlich ein großer Segen, dass diese friedliche Revolution zu großen Teilen aus dem geschützten Räumen der Kirchengemeinden heraus entwickelt hat. So war die Bergpredigt mit ihrem Aufruf zur Gewaltfreiheit die Grundlage für einen der wichtigsten Slogans der Demonstranten: “Keine Gewalt!”

Am Montag, den 9. Oktober, fünf Wochen nach der “ersten” Montagsdemo vom 4. September waren aus den 1.000 mittlerweile 70.000 mutige Menschen geworden. An diesem Abend wurde in Leipzig das Ende der DDR endgültig eingeleutet. An diesem 9. Oktober wurde die Mauer der Angst endgültig eingerissen. Dass exakt einen Monat später am 9. November dann auch die Mauer aus Stacheldraht, Selbstschussanlagen und Beton fiel, war die zwangsläufige Folge der friedlichen Revolution, die am 4. September in der Nikolaikirche ihren Ausgang nahm.

Die Menschen verließen die Nikolaikirche jeden Montag, um mit einer Kerze in der Hand friedlich zu demonstrieren. Pfarrer Führer sagte dann: “Mit einer Kerze in der Hand kann man keine Steine werfen!” Auf diesen Mut, die Angst um sich selbst zu überwinden und die scheinbar übermächtige Staatsmacht mit einer entwaffnenden Friedfertigkeit zu düpieren, waren die Herrschenden Kader nicht vorbereitet. Volkskammerpräsident Horst Sindermann brachte es später auf den Punkt:

“Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen und Gebete.”

All den mutigen Menschen der friedlichen Revolution von 1989 wird immer meine große Bewunderung und tiefe Dankbarkeit gehören.